„Sie fehlt mir jeden einzelnen Tag“, sagte die Frau, die mir in einer entfernten Stadt an einem unbekannten Flussufer gegenübersitzt und mit mir über den Tod ihrer Mutter spricht.
„Es wird immer eine Lücke da sein und ein Schmerz, der nie wirklich verschwinden wird.“
Aber sie habe gelernt, diesen Verlust in ihr Leben zu integrieren und ihn anzunehmen.
„Irgendwann habe ich erkannt, dass meine Mutter immer noch hier ist“, be-richtet sie. „Ich meine: ich bestehe aus dem Erbmaterial meiner Mutter. Und ihre Gene leben in mir weiter“, schlussfolgert sie rational.
Noch bedeutsamer sei aber die Liebe, die sie hinterlassen habe. „All das, was meine Mutter zu Lebzeiten in mich hineingepflanzt hat, lebt in mir weiter. Ihre Liebe hat einen Teil dazu beigetragen, dass ich heute der Mensch bin, der ich bin.“
Wir tragen die Liebe und die Geschich-ten Verstorbener weiter, weil sie auch ein Teil unserer Geschichte werden. Ist der Gedanke nicht schön?
Ob sie glaubt, dass sie ihre Mutter nach ihrem eigenen Tod irgendwo im Jenseits wiedertreffen würde? „Darüber habe ich mir ehrlich gesagt kaum Gedanken gemacht“, überlegt sie. „Mit den Jahren hat es irgendwann angefangen, dass es sich ok anfühlt, nicht auf alle Fragen eine Antwort zu haben zu müssen.“
Sie hat keine Probleme damit über den Tod zu reden, auch wenn die Augen dabei feucht werden. „Der Tod kann uns viel über das Leben lehren“, sagt sie. Nur Verdrängen wäre blöd. Ihr Vater und ihr Bruder würden beispielsweise ihr Leben einfach weiterleben und machen sich oft Sorgen darüber, dass sie sich so viel mit ihrer Trauer auseinandersetzt. „Ich hingegen“, lacht sie „mache mir Sorgen um die Beiden, weil sie nicht wirklich trauern können.“
Manchmal liest sie die alten Tagebücher ihrer Mutter. Sie hat immer noch nicht alle gelesen, weil sie diese wie einen Schatz hütet und nicht möchte, dass die Geschichte irgendwann einmal endet.
Mich hat unser Treffen tief bewegt. Ich, die Angst davor hat, meine Kinder durch meinen möglichen Tod zu traumatisierten. Und sie, die Wege gefunden hat, den Tod ihrer Mutter zu akzeptieren, damit zu leben und daran sogar zu wachsen.