
„Der Stachel bleibt drin!“
Seine Äußerung ist klar und unmissverständlich. Er bringt sie mit einer Vehemenz hervor, die keinen Zweifel übrig lässt: Der Stachel bleibt drin.
„Naja“, versuche ich zu erklären, was für mich auf der Hand liegt, für den 5Jährigen jedoch deswegen noch lange nicht plausibel erscheint: „Wenn du den Kaktus-Stachel drin lässt, dann wird es weiter weh tun. Möglicherweise bricht er sogar ab und dann tut es erst recht weh und wir kriegen den Stachel nur noch schlecht raus.“
„Der Stachel bleibt drin!“, sprach er noch und verschwand dann mit verschränkten Armen in seinem Zimmer.
Nun versucht mein Mann sein Glück:
eine ähnliche Argumentation, ein ähnliches Ergebnis beim 5Jährigen:
„Der Stachel bleibt drin.“
Beim Anblick der Pinzette in meiner Hand, fängt er an zu schreien.
„Hey, ich mache nichts, was du nicht willst“, versuche ich zu beschwichtigen. Seine Antwort lautet: Naja, ihr kennt sie bereits.
Nach einiger Zeit und mit weiterhin abgespreiztem Finger inklusive Stachel reden wir noch einmal in Ruhe:
„Ich weiß ja, der Stachel soll drin bleiben,“ fange ich an und frage nach seinen Befürchtungen:
Wenn der Stachel rausgezogen wird, könnte es sehr weh tun! Das Blut könnte den ganzen Arm hinunter laufen, so viel Blut wäre es bestimmt! Vielleicht tut der Finger dann für immer so weh wie jetzt und SOGAR NOCH VIEL VIEL MEHR!
Nach viel munterem Zureden lässt er sich auf das Experiment ein: Der Stachel wird rausgezogen.
Er kneift tapfer Augen und alle Gesichtsmuskeln zusammen und stellt sich auf den großen Schmerz ein, der da ganz sicher kommen mag.
Es passiert: nichts.
„Fertig!“, ruft mein Mann.
Die Körperspannung des 5Jährigen fällt ab.
„Was, schon fertig?“, lacht er nun: „DAS TAT JA ÜBERHAUPT NICHT WEH!“
„Surprise, surprise“, lächeln der Mann und ich uns an:
„Schon komisch, dass er vor lauter Angst vor einem möglichen Schmerz lieber den gerade stattfindenden Schmerz akzeptiert und einfach nicht glaubt, dass es besser werden kann.“
Schon komisch, dass viele Erwachsene genau so ihr Leben leben.