Als Kind dachte ich, ich hätte keine Talente. In der siebten Klasse sollte jeder einmal sagen, was er besonders gut können würde. Es ging reihum:
„Tischtennis“
„Schimmen“
„Tischtennis“
„Malen“
„Tischtennis.“
Schließlich war ich an der Reihe. Ich wollte ehrlich sein. Überlegte.
„Ich weiß nicht, was ich gut kann“, sagte ich schließlich.
Die Lehrerin (mein Gott, war diese Frau in diesem Beruf deplatziert) schrie mich an, dass das ja wohl nicht sein könne. Es müsste ja wohl irgendwas geben, was ich gut kann. Bis Morgen sollte ich mir was überlegen.
Am nächsten Schultag fragte sie mich wieder vor der ganzen Klasse:
„Und, ist dir eingefallen, was du gut kannst?“
Ich hatte wirklich darüber nachgedacht, aber war zu keinem Ergebnis gekommen. Ich las gerne, aber das war doch schließlich kein Talent? Ich dachte gerne übers Leben nach – aber das könnte wohl kaum damit gemeint sein.
„Tischtennis“, sagte ich leise. Das sagten schließlich alle und es war anscheinend geläufig, hierin sein Talent zu sehen.
Sie nickte und war zufrieden.
Ich war es nicht.
Es dauerte lange, bis ich selbst herausfand, was ich gut kann. Manches erschien mir noch nicht mal als wirkliches Talent zu zählen. Probleme lösen zum Beispiel. Gib mir ein Problem und ich tobe mich daran aus. Als wir eine Wohnung suchten, druckte ich unser Wohnungsgesuch auf kleine Gummibärchentütchen und verteilte sie in der Wohngegend. Echt, Probleme liegen mir. Nicht, dass ich sie mag, aber bei Lösungsfindungen kann ich kreativ sein; oder so schlicht, dass ich einfach den kürzesten Punkt zwischen Problem und Lösung finde.
Ich war auch gut im Zehnfinger-Schreiben. Ein merkwürdiges Talent, ich weiß. Im Job hatte ich Kopfhörer auf, schrieb nach Diktat und während meine Finger schrieben, was mir ins Ohr diktiert wurde, konnte ich parallel Unterhaltungen führen. Auch heute noch kann ich, wenn mein Mann im Türrahmen steht, mit ihm sprechen und parallel tippen meine Finger weiter auf der Tastatur.
Nach der Krebserkrankung fing ich an zu spielen: Schreiben und Fotografieren als Möglichkeit des Selbstausdrucks. Das kann ich und es befriedigt mich zutiefst. Aus diesem Grund ist es auch so wichtig für mich. Egal, welche Deadline mir im Nacken sitzt, wenn draußen ein besonderer Schmetterling sitzt, schnappe ich mir die Kamera und kann ihn stundenlang beobachten.
Sobald Zwang oder Druck dazu kommen, wird es schwer. Wenn ich heute Auftragstexte schreiben, die mich nicht catchen, kaue ich auf den Wörtern rum, fange an Sätze umzustellen und denke nach, welche Wörter sich am besten machen könnten. Schlage Synonyme nach, streiche, kürze und kaue mir auf den Lippen rum.
Das Beste – beim Fotografieren oder beim Schreiben – entsteht aus dem Moment heraus. Wenn ich auf der dreckigen Straße liege, weil mich der Blickwinkel von dort so fasziniert. Zum Beispiel.
Meine Texte mag ich dann, wenn ich mich hinsetze und sie runterschreibe. Hinsetzen. Kopf und Herz aufs Papier (oder den PC) fließen lassen und hinterher erst verwundert schauen, was da eigentlich steht. Dann ist es gut. Dann macht es Spaß. Wenn Herz und Hirn dabei sind und die Intention dahinter weder ist, besonders gut zu sein noch irgendjemandem gefallen zu wollen.
Wenn ich mich heute in mein Siebtklässler-Ich zurückversetze, wäre vielleicht das eine gute Antwort gewesen:
„Ich versuche ich selbst zu sein. Und in einer Welt, die immerzu fordert und nur das Besondere als gut genug anerkennt, erscheint mir allein dieser Versuch tatsächlich ein Talent zu sein.“
Was natürlich zu komplex für mich als 12jährige gewesen wäre und angesichts meines eingeschüchterten Jugendlichen-Ichs auch nicht der Wahrheit entsprochen hätte.
Ein guter Satz der Lehrerin wäre hingegen gewesen:
„Ihr seid gut so wie ihr seid. Wenn ihr (noch) kein Bewusstsein für eure Talente habt, ist das in Ordnung. Talente machen euch nicht aus. Ihr seid viel mehr als die Summe eurer Fähigkeiten. Und übrigens: Wenn ihr zum Beispiel wisst, was euch glücklich macht, dann ist allein dieses Wissen vielleicht das beste Talent, was ihr haben könnt.“