Krankheitsgewinn.
Was für ein unschönes Wort.
Im Bereich der Psychologie versteht man hierunter Vorteile,
die jemand bewusst oder auch unbewusst aus seiner
Krankheit zieht.
„Was hatte deine Erkrankung Positives?“, fragte mich
kürzlich jemand und mittlerweile bin ich neugieriger,
offener geworden. War es einst so, dass ich Fragen dieser
Art mit Abwehr und Empörung begegnete, lasse ich solche
Gedanken mittlerweile zu, wische sie nicht pauschal
zu Seite, sondern denke wirklich darüber nach.
„Also, ich hatte plötzlich Zeit zum Ausruhen“, antwortete
ich und überlegte weiter.
„Und niemand wollte was von mir. Ich meine, ich bekam
wöchentlich Chemos, hatte keine Haare mehr und meine
Mastektomie stand kurz bevor – niemand hat wirklich
viel von mir erwartet.
Die Uni machte ich so gut ich konnte und naja, das war
halt nicht besonders gut, aber es interessierte auch niemanden.
Mich auch nicht.
Niemand erwartete, dass ich morgens aufstehe und Leistung
erbringe; ich musste es natürlich trotzdem tun, vor
allem im Hinblick auf die Kinder, aber der gesellschaftliche
Druck fiel plötzlich ab.
„Du musst eine gute Mutter sein, Geld verdienen, deine
Ehe zusammenhalten, mit deinen eigenen Problemen
zurecht kommen, studieren und abends dann noch nicht
total k.o. umfallen, sondern auch noch so viel Energie
übrig haben, dass das alles keine Anstrengung, sondern
Freude ist.“
Und dann war ich ja krank geworden. Und diese Erwartungen
und es ist mir bewusst, dass meine eigenen
Erwartungen an mich selbst viel schwerer wogen als vermeintliche
Erwartungen von außen – konnten ruhen. Ich
hatte ja plötzlich den Tod auf meiner Schulter sitzen.
Leute schauten mich anders an, nahmen mich ganz anders
wahr. Das war oft verstörend, aber auch interessant,
denn ich war ja immer noch der gleiche Mensch und nur
in der Wahrnehmung anderer nun anders, irgendwie besonders.
„Du bist stark“, sagten die Menschen und ich glaube, das
fühlte sich gut an. Eigentlich war ich aber nicht stark,
sondern war es vorher, 30 Jahre lang, immer gewesen.
Und nun erlaubte mir die Krankheit zum ersten Mal
wirklich schwach zu sein. Ohne schlechtes Gewissen.
Manche Menschen hörten mir plötzlich zu, als hätte ich
etwas Wichtiges zu sagen; als wäre ich plötzlich weise
geworden oder wäre dem Rätsel des Lebens auf die Spur
gekommen.
Wenn Leute glauben, dass du stirbst, verändern sie sich
oft: beichten, vergeben, geben, schweigen, klären alte
Konflikte.
Es war total verrückt. Manche interessierten sich seit
der Erkrankung nicht mehr für mich – oder brauchten
halt für sich selbst die Distanzierung von so schweren
Themen wie Tod und Krankheit. Und manche suchten
erst aufgrund meiner Krankheit überhaupt den engeren
Kontakt zu mir.
Und das skurrilste war, dass ich gar nichts dafür konnte,
wie die Menschen reagierten: Leute projizieren eigene
Ängste, unbearbeitete Themen, Hoffnungen und Sehnsüchte.
Und das alles hatte etwas mit ihnen selber, aber
nicht unbedingt mit mir zu tun.
Das hat mich viel darüber gelehrt, was das Verhalten
anderer Menschen mir gegenüber angeht.
Ich glaube, ich habe überhaupt nie mehr über die Menschen
gelernt, als in den letzten knapp zwei Jahren. Über
mich selbst auch.
Und auch darüber, wie sehr ich mich danach sehne, zu
Ruhe zu kommen; sie mir selber erlauben zu können.
Aufhören können zu kämpfen.
Ich mag diese Kampfrhetorik nicht, wenn es um Krebserkrankungen
geht. Dazu habe ich schon viel geschrieben.
Aber es ist auch so, dass ich, als ich Krebs bekam,
auf eine gewisse Weise zum ersten Mal in meinem Leben
aufhörte zu kämpfen. Weil ich es mir endlich gestattete,
auch schwach sein zu dürfen.
Ich bin nicht weniger wert, egal ob „schwach“ oder
„stark“. Und diese Bezeichnungen sind kein Wertestempel.
Vielleicht gilt es, das zu verstehen.
Also, wenn du das meinst mit Krankheitsgewinnn, ja,
dann gab es einen solchen wohl.“