Weißt du, mein Mädchen, wir leben in merkwürdigen Zeiten.
Gesellschaftliche Erwartungen werden dich vielleicht glauben lassen, dass du besonders schön sein musst, besondere Kleidung kaufen musst oder morgens eine halbe Stunde vor dem Spiegel stehen musst, um dich zu schminken, damit du einem Ideal näher kommst, was vielleicht im theoretischen Sinne perfekter wäre, aber eben weniger du und dadurch auch weniger schön.
Vielleicht wirst du den Eindruck bekommen, dass du besonders viel leisten musst. Dass du anders sein musst, als du es bist. Makelloser. Angepasster.
Du musst es nicht.
Es gibt keine Normtabellen dafür, wie Menschen zu sein haben.
Beim Versuch, dich in Schablonen zu pressen, wirst du dich nur verbiegen. Es wird darin unbequem sein und vielleicht wirst du dich eingeengt fühlen.
Du musst nicht etwas machen, allein aus dem Grund, weil alle es so machen.
Ich möchte dir eine Geschichte erzählen:
Es ist knapp 1,5 Jahre her. Ich befand mich in Chemo-therapie und hatte einen Klausurtermin. Dein Vater setzte mich morgens vor dem Gebäude ab. Ich konnte kaum stehen und schleppte mich mit Mundschutz und Brech-beutel bewaffnet hinein.
„Wow!“, sagten Kommilitonen, „krass, dass du das schaffst“. Und ich klopfte mir innerlich auf die Schulter. Wie blöd, denke ich heute.
Gesellschaftliche Erwartungen und Leistungsdenken habe ich über meine Gesundheit gestellt und das nicht zum ersten Mal.
Ich möchte nicht mehr stolz sein, weil ich in einer Leistungsgesellschaft auch unter widrigen Umständen meinen Beitrag leisten kann und dafür mit meiner Gesund-heit bezahle.
Ich möchte stolz sein, weil ich für mich eintrete und
„Stopp“ sagen kann.
Gesundheit ist ein hohes Gut. Ebenso wie Selbstachtung. Ich möchte versuchen, Beides besser miteinander zu kombinieren. Nicht auf die Anerkennung von außen zu bauen, sondern beherzt einen Weg zu suchen, in dem diese gar nicht zwingend nötig ist.
Das ist so schwer. Und wird es vielleicht auch für dich. Dich zu trauen, einfach Du selbst zu sein. Dir und der Welt würde etwas ganz Wunderbares entgehen, wenn du es nicht versuchen würdest.
Es gibt einen solchen Weg. Und manchmal entstehen Wege auch erst, indem wir sie gehen.