Mit 12 Jahren wurden meine Weisheitszähne gezogen.
Das war unter anderem deswegen so schmerzhaft, weil
während des Eingriffs mein Kiefer ausgerenkt wurde.
Ich saß also zwei Wochen zuhause, hatte Schmerzen und
konnte weder essen, sprechen noch Zähne putzen. Und
ich schwor mir, zukünftig jeden einzelnen Tag dankbar
dafür zu sein, keine Zahnschmerzen haben zu müssen.
Um es vorwegzunehmen: ich bin nicht seit 20 Jahren tagtäglich
dankbar über nicht vorhandene Zahnschmerzen.
Dankbarkeit für Gesundheit ist bei mir immer ausgeprägt
vorhanden gewesen und ich habe diese nie als
selbstverständlich betrachtet. Nichtsdestotrotz werden
neue Situationen mit der Zeit als „normal“ angesehen.
Das betrifft gute und schlechte Umstände und man
nennt es Habituation: der Mensch gewöhnt sich an neue
Reize, und die Reaktion darauf schwächt im Zeitverlauf
für gewöhnlich kontinuierlich ab.
So war meine Verzweiflung aufgrund der Krebsdiagnose
erst riesig, dieser neue Umstand wurde aber nach und
nach ins Leben und in den Normalzustand integriert, so
dass ich irgendwann nicht mehr jeden Tag einem Nervenzusammenbruch
nahe war.
Ich habe nun seit einem 3/4 Jahr kein ausgeprägtes Chemo-Brain
mehr, mir ist schon lange nicht mehr durchgehend latent
übel und einen Arzt habe ich tatsächlich seit etwa zwei
Wochen nicht gesehen.
Dieses zurückgewonnene Stück Normalität habe ich mir
in Chemozeiten so sehr herbeigesehnt. Wie toll muss es
sein, morgens ohne derartige körperliche Einschränkungen
aufstehen zu können? Und, bei Gott, das war es und
ist es auch weiterhin. Aber es ist auch normal geworden.
Eine Normalität, die ich schätze, achte und für die ich
unendlich dankbar bin. Aber ich schicke nicht, wie ich es
mir einst ausmalte, jeden einzelnen Tag direkt nach dem
Aufstehen Dankesgebete gen Himmel und hüpfte ausnahmslos
erquickt durch den so lange herbeigesehnten
Alltag hindurch.
Und das hat nichts mit einer zu geringen Wertschätzung
zu tun, sondern ist vermutlich ganz einfach menschlich.